Wir
Das Initiativeprinzip in Stadtgemeinschaften.

Wir alle haben eine intuitive Vorstellung davon, was Demokratie bedeutet und welche Bedeutung es für Regelfindung in Gruppen hat. Wir assoziieren damit, uns miteinander abzustimmen und eine Wahl zu treffen, um langfristig geltende Spielregeln festzulegen. Gemeinschaftliche Abstimmungen können langwierig und kraftraubend sein und führen oft nicht zu einer direkten Einigung, sondern zu weiteren Abstimmungen. Demokratie ist also in gewisser Weise kostspielig. Diese Aufwände haben auch einen begrenzenden Effekt. Der Konsent ist etwas “kostengünstiger” und ist eine in vielen Gemeinschaftsprojekten angewandte Methode zur Entscheidungsfindung, die sich von ihrer Agilität in etwa zwischen Demokratie und dem Initiativeprinzip positioniert. Haben Gruppenteilnehmer weder die Ressourcen, noch die nötige Verbundenheit mit der Gruppe, um hohe Abstimmungsaufwände zu schultern, kommt das agilere Initiativeprinzip ins Spiel.  
Das Initiativeprinzip ist ähnlich wie Demokratie ein Abstimmungswerkzeug, jedoch kostengünstiger für spontane Regelfindung. Es ist besonders für kleinere Gruppen geeignet, die sich spontan für kurze Zeiträume Spielregeln geben wollen, z.B. für einen gemeinsamen Persönlichkeitsentwicklungs-Workshop, für einen Erlebnisraum oder eine gemeinsame emotional verbindende Veranstaltung, Räume, in denen die Teilnehmer keine langfristigen, oder existenziellen Abhängigkeiten miteinander eingehen. Vor allem, wenn Zeit und Abstimmungsbereitschaft bei den Teilnehmern knapp ist, wenn ein gegenseitiges Grundvertrauen vorhanden ist und auch ein grober Konsens darüber herrscht, in welchem Rahmen Spielregeln ausfallen können, dann sorgt das Initiativeprinzip für schnelle, spontane Einigung, die für alle Beteiligten wertvoll werden. Die Basis des Initiativeprinzips bildet ein freier Marktplatz aus Angebot und Nachfrage, der sich in Anbieter und Teilnehmer aufspaltet. Wer motiviert ist, freie Ressourcen hat und Verantwortung übernehmen will, kann sich ungefragt als Anbieter positionieren und anderen ein konkretes (Begegnungsraum-) Angebot machen und das in Form einer beschreibenden Ankündigung, oft über ein digitales Kommunikationsmedium. Die potenziellen Teilnehmer lassen dann diese Einladung auf sich wirken und wägen ab, ob Ort und Zeit für sie passt, ob sie sich bei einer Teilnahme wohl und sicher fühlen würden, ob das Angebot allgemein lohnenswert für sie ist und ob die zu erwartende Teilnehmeranzahl und Zusammensetzung für sie attraktiv genug ist.
Wirkt der Anbieter vertrauenswürdig und das Angebot attraktiv genug, dass eine ausreichend große Anzahl von Teilnehmern annimmt, kommt der Begegnungsraum zu stande, sonst wird Abgesagt und das Vertrauen in den Anbieter sinkt. Die Teilnehmer haben den Vorteil keinen Zeit- und Energieaufwand für eine Einigung investieren zu müssen und der Anbieter hat den Vorteil bei der Ausgestaltung der Spielregeln Gestaltungsspielraum zu haben. Hier kommt ein weiterer Aspekt des Initiativeprinzips zum Tragen. Es eignet sich besonders gut, wenn der Anbieter von Begegnungsräumen plant, selber auch Teilnehmer seines eigenen Begegnungsraums zu werden. Oft agieren Anbieter in einer Doppelrolle abwechselnd als Moderator/Leiter und Teilnehmer. So kann die Anbieterin für sich spezifische soziale Erlebnis-, Entwicklungs- und Lebensbedingungen herstellen. Oft ist das alleine schon ein ausreichender Motivator für den Aufwand in die Verantwortung als Anbieter zu gehen.
Damit das Initiativeprinzip funktionieren kann, brauche es einen Vorauslaufenden sozialen Raum, der ein ausreichendes Maß an Vertrauen, Toleranz und existenzieller Unabhängigkeit bietet. Auch ein gewisser Hunger nach menschlicher Nähe, Persönlichkeitsentwicklung und ein Ressourcenüberfluss sind Voraussetzungen. Bereits das Aufkommen subtiler Mangelerscheinungen jedweder Art können einen solchen Angebots-, Nachfragemarkt zum erliegen bringen und Angebote werden nicht mehr ausreichend Angenommen. Kurz, es sollte allen gut genug gehen, dass sie sich auf ein solches, menschlich und emotional riskantes Spiel einlassen.
Wirkt das Initiativeprinzip über einen längeren Zeitraum in einem sozialen Raum,  gewinnt es zunehmend die Eigenschaften einer gemeinsam geteilten Kultur. Das anbieten und annehmen von Begegnungsraumangeboten wird von der Ausnahme zur Regel und damit für die Teilnehmer des sozialen Systems erwartbar. Hier wird sichtbar, wie sich das Initiativeprinzip strukturell von Demokratie unterscheidet. Die mit hohem Aufwand ausgehandelten, permanenten Regeln der Demokratie, stehen einer Wolke von immer wieder aufs neue angebotenen und angenommenen Regelräumen gegenüber. Beim Initiative Prinzip entstehen die gelebten Regeln zeitnah und in unmittelbarem menschlichen Kontakt zwischen Anbietern und Teilnehmern. Das hat gewisse Vorteile gegenüber der Demokratie, wo die Regelschaffenden keinen persönlichen Kontakt zu den Regel ausführenden haben und zwischen Regelschaffung und Regelausführung große zeitliche Distanzen liegen.  Zudem neigen Demokratien dazu, mehr Regeln aufzubauen als sie abbauen, sodass zusätzliche Reibung durch nicht mehr passende Regeln entsteht. Anders beim Initiativeprinzip, wo Regeln nur für tatsächlich gelebte Begegnung gelten und wo dessen Einhaltung und Durchsetzung unmittelbar im menschlichen Kontakt und in der Präsenz des Regelverantwortlichen passieren und das unter günstigen Voraussetzungen, denn den Regeln wurde zeitnah durch die Annahme des Angebots implizit zugestimmt. Auch das Ablehnen von Regeln findet beim Initiativeprinzip seinen Raum.  Wenn Teilnehmer an bestimmten, häufiger auftretenden Regeln Anstoß nehmen, gibt es immer die Möglichkeit in Selbstverantwortung zu gehen und eigene Angebote zu machen. In einer Initiativkultur haben gewissermaßen die initiativsten Anbieter, deren Angebote am häufigsten angenommen werden, eine besondere Verantwortungsrolle und damit ein sensibles Verhältnis zu ihren Teilnehmern (siehe Konfuzianismus). Sie vereinigen quasi die Legislative, die Exekutive und einen Teil der Judikative auf sich, ohne dabei Autoritär werden zu können, denn ihr nachhaltiger Einfluss ist auf das wiederkehrende Annehmen ihrer Angebote angewiesen und das gibt den Teilnehmern einen großen Teil des Einflusses. So balanciert sich eine Initiativkultur deutlich dynamischer als Demokratien und kann somit den alle Gruppenprozesse erfassenden Entwicklungsprozess leichter abbilden. Regeln passen immer nur zu einem gewissen Entwicklungsstand der Gesamtgruppe und verändern bei fortlaufender Entwicklung oft ihre ganzheitliche Wirkung so stark, dass sie angepasst werden müssten, was in Demokratien oft zu spät oder nie passiert. Der hier vollzogene direkte Vergleich zwischen Demokratien und Initiativkulturen ist genaugenommen nicht sehr aussagekräftig, weil die Anwendungsgebiete sehr verschieden sind und kaum eine Überlappung miteinander aufweisen.  Doch aus der Perspektive einer Initiativkultur ist der Vergleich trotzdem fruchtbar, denn wir leben oft gleichzeitig in beiden Welten und Teilnehmer neigen dazu, mit Abstimmungen Probleme lösen zu wollen, weil wir das von den Massenmedien so vorgelebt bekommen. Deshalb ist es oft ratsam, sich bewusst zu machen, dass  demokratische Abstimmung ein für große Gesellschaften angemessenes Abstimmungswerkzeug ist, und das Initiativeprinzip sich für das dynamische Gestalten von lokalen Gemeinschaften eignet. Deshalb kann hier sogar die These abgeleitet werden, dass basisdemokratische Abstimmung in kleineren Gemeinschaften häufig sogar zu kontraproduktiven Ergebnissen führt. Und Gemeinschaften ein gewisses Interesse haben sollten, sich existenziell nicht zu stark zu verflechten, um die Freiheit zu behalten, eine Initiativkultur aufzuschaukeln.  Deshalb ist die Anschaffung von gemeinsam geteilter Infrastruktur für Gemeinschaften ein sensibles Thema, weil die Freiheiten, die sie dadurch gewinnen, häufig von den Einschränkungen in der Konsensfindung wieder verloren gehen. Klassische Gemeinschaftsprojekte haben häufig wenig Sensibilität für den Eigenwert der Vermeidung von Existenziellen Abhängigkeiten ihrer Teilnehmer und oft wäre die größere existenzielle Unabhängigkeit ihrer Mitglieder eine Voraussetzung für das gelingen ihrer Einigungsprozesse.
Ein ähnliches rückbezügliches Verantwortungsverhältnis zwischen gesellschaftlich tragenden Rollen stellt wie bei Initiativkulturen auch der Kern des chinesischen Konfuzianismus dar, den wir Individualisten gerne als Kollektivismus missverstehen. Rollen sind dort ebenfalls zueinander asymmetrisch angelegt, es gibt immer eine führende und eine geführte, und die geführte kann das Rollenverhältnis jederzeit aufkündigen, wenn sie das Gefühl hat, dass die führende keine “gute führende” ist. Im Kontrast dazu leben wir im kapitalistischen Westen das Prinzip der unverantwortlichen Macht, was zwar Vorteile beim Machterwerb bietet, was jedoch kein nachhaltiges, stabiles gesellschaftliches Ordnungsprinzip ist. Wir leben in der ständigen Ohnmacht, dass unsere Finanzsysteme kollabieren könnten, ohne dass eine ausgleichende rückbezügliche Macht, das Verhalten der Kapitalbesitzer zu verantwortungsvollerem, stabilisierenden  Verhalten hin beeinflussen könnte. Ein langfristiges Ziel muss es deshalb sein, diese rückbezüglich-, stabilisierenden sozialen Dynamiken auch in unsere kapitalistische Welt einzubringen. Das kann durch eine Evolution von unten passieren, dadurch, dass sich das Initiativeprinzip nach und nach an Einfluss gewinnt.